Der vergessene Zugang – Der nördliche Stollen des Hainer Stollens
Tief unter dem nördlichen Teil des Siegbergs verbirgt sich ein kaum bekannter, aber bedeutender Teil der Siegener Unterwelt: ein 120 Meter langer Luftschutzstollen, der einst als vierter Zugang zum Hainer Stollen geplant war. Dieses unvollendete Bauwerk erzählt von großen Plänen, kriegsbedingter Eile – und einem abrupten Ende.
Ein Projekt im Schatten des Krieges
Während der Hauptteil des Hainer Stollens sich südöstlich unter dem Siegberg erstreckt und auf das alte Bergwerk „Grube Alte Silberkaute“ zurückgeht, wurde zwischen 1943 und 1945 ein weiterer Zugang von Norden geplant. Ziel war es, das Luftschutzsystem mit einem zusätzlichen Stollen zu erweitern, der direkt unter dem Marktplatz – zwischen Rathaus und Nikolaikirche – auf den südlich vorangetriebenen Hauptstollen treffen sollte.
Doch dazu kam es nie. Der Krieg endete, bevor der Durchschlag vollzogen werden konnte. Dennoch ist der nördliche Stollen ein eigenständiges technisches und historisches Zeugnis dieser Zeit.
Zugang und Aufbau: Einblicke in den Bau
Der Eingang des nördlichen Stollens befindet sich am Fuße des nördlichen Siegbergs und ist heute durch eine moderne Edelstahltür gesichert. Schon wenige Meter nach dem Zugang stößt man auf die erste sogenannte Splitterschleuse: Eine halbmeterdicke Ziegelmauer, die von der rechten Seite bis in die Mitte des Ganges reicht – neun Meter weiter folgt eine spiegelbildliche Wand von der linken Seite. Diese Schleusen sollten im Ernstfall die Wucht einer Explosion im Eingangsbereich abfangen.
Danach folgt die Luftdruckschleuse, ein weiteres zentrales Element der Luftschutztechnik: Zwei hintereinanderliegende Türen mit der Beschriftung „Erst Ausgangstüre schließen, dann Luftschutztüre öffnen“ sichern den kontrollierten Druckausgleich. Der Ausbau besteht aus massivem Stahlbeton, der Gang ist rund 2,70 Meter breit und 2 Meter hoch – exakt im Stil des Hainer Stollens.
Bauhistorische Quellen: Dokumentierte Sorgfalt
Aus dem erhaltenen Schriftverkehr zwischen dem Bergamt Siegen und der ausführenden Baufirma geht hervor, dass der nördliche Stollen offiziell in das Luftschutzbauprojekt des Hainer Stollens integriert war. Am 24. Mai 1944 wurde der sogenannte „Querschlag Richtung Emilienstraße“ dokumentiert und mit zwei Schichten besetzt. Die verantwortlichen Vorarbeiter sind namentlich bekannt und wurden gemäß den bergpolizeilichen Vorschriften belehrt.
Diese Dokumente belegen: Der Stollenbau wurde ernst genommen – als strategisch wichtiger Flucht- und Zugangsweg sowie als Teil eines komplexen Schutzsystems.
Ein Ende ohne Durchbruch
Der nördliche Stollen endet abrupt. An seinem südlichen Ende sind noch Bohrlöcher sichtbar – letzte Vorbereitungen für eine Sprengung, die nie durchgeführt wurde. Etwa 260 Meter fehlten noch, um den südlich gelegenen Hauptstollen des Hainer Systems zu erreichen, in dem parallel ein weiterer, ca. 60 Meter langer Stollen Richtung Juliusstraße vorgetrieben wurde.
Die Vorstellung, dass sich beide Stollen exakt unter dem historischen Marktplatz hätten treffen sollen, lässt die Dimension des Projekts erahnen.
Nachkriegspläne und heutige Bedeutung
In den 1980er Jahren kam die Idee auf, die stark befahrene Frankfurter Straße durch einen Tunnel zu entlasten. Für dieses Projekt wurde auch der nördliche Stollen als mögliche Trasse diskutiert. Letztlich wurde der Plan nicht weiterverfolgt – zu aufwendig, zu teuer. Die alten Luftschutzanlagen blieben, ungenutzt, aber erhalten.
Heute ist der nördliche Stollen ein faszinierender Ort für Geschichtsinteressierte. Er zeigt, wie tiefgreifend in der NS-Zeit geplant wurde, um die Bevölkerung in Siegen zu schützen – und wie das Ende des Krieges auch zum Ende der Baumaßnahmen tief im Inneren des Berges geführt hat.