Der vergessene Brunnen an der Marienkirche
Direkt an der Löhrstraße, neben der katholischen Marienkirche, liegt eine nahezu unbekannte, aber historisch hochinteressante Wasseranlage. Jahrzehntelang war sie in keiner Publikation präsent, ihr Zugang verschlossen, ihre Funktion unklar. Erst Zeitungsberichte aus den 1950er- und 1980er-Jahren, alte Stadtpläne und eine aktuelle Begehung erlauben heute ein deutliches Bild: Hier befand sich ein Wasserreservoir, das über Jahrhunderte zur städtischen Infrastruktur gehörte.
Historische Spuren: Das „Reservoir vor der katholischen Kirche“
Ein besonders wichtiger Hinweis findet sich in der Siegener Zeitung vom 10. September 1955. In einem Artikel über die städtische Wasserversorgung heißt es über das System der Pfuhl- und Gröbchen-Anlagen:
„… [das] zur Ableitung von überschüssigem Trinkwasser dienende Pfuhl- und Gröbchen-System endet vor dem Platze der katholischen Kirche befindlichen Reservoir, das bekanntlich einen unterirdischen Abzugskanal besitzt.“
Damit steht fest:
Neben der Marienkirche existierte ein gemauertes Wasserbassin mit einem eigenen Abflusskanal, eingebunden in das historische städtische Wassersystem. Der Begriff „Reservoir“ macht deutlich, dass es sich nicht um einen klassischen Ziehbrunnen handelte, sondern um einen Speicher für Lösch- oder Spülwasser.
Ein zweiter Beleg folgt aus den späten 1980er-Jahren. In einem weiteren Artikel der Siegener Zeitung heißt es im Rahmen der damaligen Altstadtsanierung:
„Der geplante Brunnen an der Löhrstraße muss allerdings aus verkehrlichen Gründen vorerst ein anderes Aussehen erhalten: Er wird als Wandbrunnen in die Kirchenmauer integriert, bis die Löhrstraße […] zur Fußgängerstraße umfunktioniert wird.“
Dieser Satz belegt, dass der Standort des alten Brunnens bekannt war und die Stadt ihn ursprünglich wieder sichtbar machen wollte. Das historische Wasserreservoir galt also als so bedeutsam, dass es in die moderne Stadtgestaltung integriert werden sollte.
Ein Fund in der Gegenwart: Der Brunnen heute
Vor wenigen Wochen konnte die Anlage erstmals wieder betreten und dokumentiert werden. Dafür ein herzlichen Dank an die Stadt Siegen (Abteilung Straße & Verkehr) und auch an die Entsorgungsbetriebe Siegen, die uns den Einblick ermöglicht haben.
Der Schacht zeigt sich in beeindruckendem Zustand:
• Durchmesser ca. 1,8 Meter
• Tiefe etwa 6 Meter
• Gemauert aus sorgfältig geschichtetem Bruchstein
• Der Wasserstand beginnt bereits rund 2 Meter unter Straßenniveau
Der hohe Wasserstand wirft eine interessante Frage auf:
Handelt es sich um ein wasserdichtes Becken, das früher Oberflächenwasser sammelte, oder speist sich die Anlage heute überwiegend aus Berg- bzw. Schichtwasser? Überraschend ist zudem der Zustand im Inneren. Auf dem Boden liegen noch ein alter Schöpfeimer mit hölzernem Stiel sowie ein Besen – stille Zeugen früherer Nutzung und späterer Wartungsarbeiten. Trotz der langen Zeit ist die Struktur der Mauern stabil, die Schichtung klar sichtbar und das Wasser erstaunlich klar.
Ein bedeutendes Zeugnis der historischen Wasserversorgung
Mit den nun vorliegenden Hinweisen lässt sich die Anlage klar einordnen:
• Standort historisch belegt
• Nutzung als städtisches Reservoir bezeugt
• Eingebunden in das frühneuzeitliche Pfuhl- und Gröbchen-System
• In den 1980er-Jahren als möglicher Wiederaufbau-Standort in der Stadtplanung vorgesehen
• Heute ein seltenes, fast vollständig erhaltenes Bauwerk unter der Siegener Altstadt
Das Reservoir an der Marienkirche ist damit eines der wenigen noch existierenden Beispiele für die historische Wasserinfrastruktur der Stadt – ein Bau, der nicht nur die technische, sondern auch die soziale Geschichte des alten Siegens widerspiegelt.
In einer dicht bebauten Altstadt, die bis ins 19. Jahrhundert wiederholt von Bränden bedroht war, waren solche Reservoirs lebenswichtige Einrichtungen. Sie stellten Löschwasser bereit, ermöglichten das Spülen von Leitungen und ergänzten das Netz aus Ziehbrunnen, Pfuhlen und Kompen.
Ausblick
Die aktuelle Wiederentdeckung eröffnet die Möglichkeit, diesen Brunnen künftig wissenschaftlich genauer zu untersuchen und langfristig vielleicht sogar wieder – wie ursprünglich geplant – im Stadtbild sichtbar zu machen.
Für die Siegener Unterwelten dokumentiert dieser Fund eindrucksvoll, wie viele historische Strukturen unter der Stadt noch existieren und wie viel Wissen durch gezielte Forschung zurückgewonnen werden kann.